275 Jahre GNR – „Langsam sein kann zu mehr Kreativität führen“

Anlässlich unseres 275-jährigen Schuljubiläums sprach der renommierte Bildungsforscher Prof. em. Dr. Rainer Dollase in einer Vortrags-Premiere über “Zeit im Bildungsprozess”. Dollase ist bis zu seiner Pensionierung Universitätsprofessor für Psychologie an den Universitäten Essen und Bielefeld gewesen und war außerdem mit seiner landesweiten Umfrage-Stichprobe zum Wunsche nach G8 oder G9 im Auftrag der Landeselternschaft der Gymnasien auch in der jüngsten Bildungsdiskussion sehr aktiv.

Stellvertretender Schulleiter Thomas Hönemann verdeutlichte in seinen Begrüßungsworten, dass es Dr. Heiner Koop zu verdanken ist, dass dieser bekannte Bildungsforscher, bei dem einige LehrerInnen des GNR in Bielefeld studiert hatten, mit seinem Vortrag die Jubiläumsreihe bereichert. Hönemann versprach dem sehr zahlreich erschienenen Publikum, unter das sich auch viele Pädagogik-SchülerInnen der Oberstufe des GNR mischten, einen vergnüglichen Abend, „bei dem Sie durch Dollases unterhaltsame, einprägsame Art der Wissensvermittlung fast gar nicht merken werden, dass Sie in einer Bildungsveranstaltung sitzen“, und sollte Recht behalten.

vl: Thomas Hönemann,
Rainer Dollase, Heiner Koop

Nachdem Dollase das Publikum, mit Blick auf seinen eigenen jüngst zurückliegenden halbrunden Geburtstag, warnte: „Alte Männer sind gefährlich, denn die Zukunft ist egal“ (Udo Lindenberg), startete er unter dem Kapitel „Wie stellen sich Menschen die Zeit vor?“ mit einer grundlegenden Betrachtung der Zeit: „Gegenwart gibt es nicht, in dem Moment, in dem ich z. B. die Hand hebe und über sie spreche, ist der Moment schon wieder vorbei“. Im weiteren Verlauf seines Vortrags schnitt Dollase verschiedenste Teilaspekte der Zeit im Bildungsprozess an – unter den weiteren Kapiteln: „Zeitwandel“ (unter den Aspekten Schüler, Eltern, Lehrer, Schule), „Zeit und Schule heute“ (unter den Aspekten Früheinschulung, Ganztag, G8/G9) und „Zeit und individuelle Entwicklung“. Die Betrachtungen der Schulgeschichte gingen von seiner eigenen Schulzeit bis zurück in das Mittelalter.

Dollase erläuterte u.a. Vergleiche zwischen früher und heute („Es war früher eben nicht alles besser“, u.a. mit Blick auf die Geschichte der Prügelstrafe in der Schule) und Zeitfenster zum Sprachenlernen in der Entwicklungspsychologie. Alles in Dollases eigener Art mit einem launigen Blick auch auf die eigene Lebensgeschichte – u.a. mit Anekdoten zu der Lehrertätigkeit seines Vaters, seiner eigenen Zeit als Student – und Schulvergangenheit („Man wurde auch schon mal `retro-vermöbelt`- alles auf einmal, für alle Vergehen in der letzten Woche“) sowie auf die Gesamtgeschichte Deutschlands vor allem ab der Nachkriegszeit. Die gegenwärtige Gesellschaft und Bildungslandschaft mit technischen Neuerungen, mit der multikulturellen Gesellschaft, mit dem Wandel der Familienformen, mit den PISA- Ergebnissen, aktuellen Abbrecherquoten an Unis, usw. wurde beleuchtet. Die möglichen Folgen der Bildungsexpansion („Alle wollen Abi und Uni – das erhöht natürlich die Klagen“) und sich wandelnde Anforderungen an die SchülerInnen („Die Welt ist komplizierter und erfordert mehr Verarbeitung“) hinterfragte Dollase kritisch.

Dollase untermauerte seinen Vortrag mit zahlreichen eigenen und fremden Studienergebnissen und Statistiken, z.B. zum sog. Flynn-Effekt, zur Landkarte des IQ („Wenn ich das so sehe, sollten Sie umziehen“), Statistiken zum Einschulungsalter im europäischen Vergleich etc. Dabei scheute Dollase sich nicht vor klaren Positionierungen, z. B. bezog er deutlich Stellung gegen eine Früheinschulung („Warum schult man so früh ein – geht den Eltern das Leben nicht schnell genug?!“) und gegen einen verpflichtenden Ganztag (der offene Ganztag komme dem flexibilisierten Arbeitsalltag der Eltern viel mehr entgegen) – immer klar hergeleitet an eigenen und fremden Veröffentlichungen z.B. von Neil Postman, Klaus- Jürgen Tillmann und Jean Piaget sowie an Studien. Dollase entwickelte als Abschluss des Vortrags Ideen für alternative Zeitgestaltungen im Schulalltag: „Man sollte alle Schülereigenschaften in die Komponente „Zeitbedarf“ umwandeln und individuelle Zeitregelungen einführen. Eine nicht- individualisierte Zeitregelung kann sich sonst als klarer Nachteil für einige Schülertypen entwickeln- sozusagen eine neue Form der Diskriminierung“.

Die abschließende Diskussion zwischen Dollase und dem Publikum zeigte, wie streitbar und interessant Fragen der Zeit im Bildungsprozess sind. So wurde die Rolle des Biorhythmus bei Anfangszeiten vom Schulalltag hinterfragt, Auszeiten in der Schülerbiografie durch Auslandsaufenthalte diskutiert, Lernzeit in Gruppenarbeit und Blockseminaren bewertet sowie Doppelstundenmodelle vs. 45-minütige Unterrichtsstunden gegenübergestellt.

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